«Wo ich an etwas dranbleiben darf, lerne ich das Dranbleiben nebenbei.»

Zitat aus der qualitativen Untersuchung im Rahmen der Schulentwicklung der GrundacherSchule in Sarnen (Kanton Obwalden, Schweiz)

 

Am Mittwoch, den 13. April 2022 konnte ich die GrundacherSchule in Sarnen besuchen. Dieser Blogpost dokumentiert meine Beobachtungen, Gedanken und Erkenntnisse dieses wertvollen Hospitationstages.

Wie machen es die Jüngsten?

Mein Interesse gilt an diesem Vormittag der Basisstufe, obwohl ich eigentlich selbst in der Mittelstufe zuhause bin. Ich erhoffe mir Erkenntnisse, hinsichtlich der Gestaltung der Lernprozesse in den Bereichen Lesen, Schreiben und Rechnen: Wie eigenen sich die Kinder an der GrundacherSchule diese Kulturtechniken an? Wie ist das Material organisiert und aufbereitet? Wie selbstständig und eigenverantwortlich arbeiten die Kinder und mit welchen Aufgaben sehen sich die Lernbegleiter*innen konfrontiert?

 

Schmetterlinge im Sitzkreis 

Bevor sich mir Antworten auf diese Fragen eröffnen, nimmt der Tag in der Basisstufe im Sitzkreis seinen Anfang. K. (Lernbegleiterin) begrüsst jedes Kind persönlich: ein kräftiger Händedruck, Augenkontakt, ein hörbares Grüezi – K. fordert ein, da besteht kein Zweifel. Dann präsentiert ein Kind ein wunderbares Symmetriebild aus farbigen Spielsteinen, das von den Anwesenden gewürdigt wird – kurz, aber aufrichtig. Nun wendet sich K. dem eigentlichen Thema zu. Während den nächsten 30 Minuten widmet sich die Runde den Schmetterlingen. Inhaltlich lerne ich so einiges dazu: Beispielsweise war mir die lustige Fortbewegungsart der Raupen, die die Wortendung «Spanner» in ihrem Namen tragen, nicht bekannt. Auch das geniale Fadenkonstrukt einer spinnenden Raupe habe ich - so detailliert - noch nie vor Augen geführt bekommen. Die Kinder sind voll bei der Sache, wissen unheimlich viel (z.B. die unzähligen Schmetterlingsnamen, eigene Geschichten zum Exkurs Seide, usw.). K. hält alle bei der Stange – dank einer geschickten Rhythmisierung: Bewegung (Fortbewegungsarten der Raupen nachmachen), Filmchen, ein Seidentuch zum Anfassen, Karteikarten zu den Schmetterlingen – die inhaltlich anspruchsvollen 30 Minuten vergehen wie im Fluge. Dann werden die Kinder in die freie Tätigkeit entlassen. K. organisiert und fragt nach: «Ihr geht in die Mittelstufe! Wer übt die Präsentation? Wer geht ins Spielhaus? Und ihr? Besprecht ihr noch zusammen, was ihr machen wollt?»

Auf die Kinder wartet eine vorbereitete Lern- und Spielumgebung. Auch zum Thema Schmetterlinge stehen Vertiefungsangebote bereit: Ein Arbeitsplatz mit Mikroskop und eine grosse Bücherkiste passend zum Thema entdecke ich in den Räumlichkeiten.  

 

 

Eine vorbereitete Lern- und Spielumgebung

Nun finde ich Zeit mich mit meinen Fragen auseinanderzusetzen. In einem Raum entdecke ich offene Gestelle, die von unten bis oben mit Lernmaterialien bestückt sind (Spiele, Heftchen, Couverts, Aufgabenkarten, usw.). Hier herrscht Ordnung und Struktur, da gibt’s keinen Zweifel. In diesem Raum steht den Kindern das ganze Basisstufen-Universum zum Lesen, Schreiben und Rechnen bereit – offen für alle. Die Spiele und Lernmaterialien sind mit Nummern versehen. Jedes Gestell ist nach gleichem System aufgebaut: Ganz unten befindet sich der thematische Einstieg in die «Materie». Von Tablar zu Tablar erklimmt man Kompetenzstufe für Kompetenzstufe. Passend zu dieser Struktur haben die Kinder eine Art Kontroll-/ Arbeitspass. Auch dieser ist simpel und einfach: Für jede (Kompetenz-) Stufe stehen den Kindern 3 Felder zum Ausmalen zur Verfügung. Hat man die Kompetenzstufe dreimal erfolgreich bearbeitet, gilt es die nächste in Angriff zu nehmen. Der Kontrollpass hilft dabei, nicht in der Komfortzone zu verharren. Ich «inspiziere» das Gestell zur Schreibkompetenz genauer: Das unterste Tablar widmet sich den Buchstaben: Nähkarten, Schiefertäfelchen, Hohlformen zum Nachfahren. Dann kommen drei Tablare zur Kompetenzstufe «Wort»: Namen schreiben (für K. ist das der logische Einstieg ins Wörterschreiben), Couverts und Streichholzschachteln mit Bildern und Buchstaben zum Wörter legen, Übungsheftchen mit lautgetreuen Wörtern, Wörtern mit ch, ei, sch, pf, eu, ie, ng, st, Doppelkonsonanten, Doppelvokalen, h, ch/tz, etliche Wortspiele. Das zweitoberste Tablar gehört den Sätzen: Satzwürfel, Story-Cubes (Spiel), usw. Der «Gestell-Gipfel» widmet sich dem Geschichtenschreiben: Hier finden sich mehrere illustrierte Karteikarten-Sets.

 

Im Gespräch mit K. und S. (die Lernbegleiter*innen der Basisstufe) wird mir klar, dass nicht alle Kinder diesen Kompetenzaufbau gradlinig, sprich Schritt-für-Schritt aufbauend durchlaufen. Es besteht auch nicht der Anspruch, dass dies so sein muss. Es kommt halt sehr darauf an, wie das einzelne Kind lernt und wo es steht. An der GrundacherSchule gibt es im Wochenverlauf feste Zeitfenster, an denen sich die Kinder mit den Lese-, Schreib- und Rechnungskompetenzen auseinanderzusetzen haben: Was aus dem vorhandenen Material aber bearbeitet wird, steht den Kindern offen.

 

Das Können dokumentieren

Im «Könnerheft» der Basisstufe entdecke ich schliesslich den entsprechenden Raster zu den «sprachlichen Kompetenzen», basierend auf dem Lehrplan 21. Der sprachliche Kompetenzraster kommt als Schlange daher, eingeteilt in die verschiedenen Kompetenzstufen. Ich finde die Kompetenzformulierungen zum Schreiben sofort, passend zur Struktur des Gestells mit den Lern- und Spielmaterialien zum Schreiben: Ich kann alle Buchstaben schreiben. Ich kann Wörter schreiben. Ich kann Sätze schreiben. Ich kann einen Text von Hand schreiben. Ich kann einen Text am Computer schreiben. Ich kann für das gleiche Wort andere Wörter einsetzen. Ich kann gelernte Wörter richtig schreiben. Ich kann meinen Text mit Hilfe korrigieren.

Jede, dieser Kompetenzstufen hat drei Sektoren, so wie auch der Kontrollpass. Die Schlange ist farblich gestaltet, denn jedes Jahr wird im Frühling dokumentiert, an welchen Kompetenzen das Kind erfolgreich gearbeitet hat (Übertragung des Kontrollpasses). 

 

Motivation und Würdigung 

Nach der Pause kann ich S. bei einer Lernberatung über die Schultern schauen. Mit einem Mädchen kontrolliert er die Reinschrift in einem Ringbüchlein. Als Grundlage dieser Reinschrift dient eine korrigierte Entwurfsschrift in einem anderen Heft (einige Wörter sind durchstrichen, Buchstaben korrigiert, Grossschreibung markiert, usw.). Die Diskussion zwischen den beiden ist inhaltlich detailversessen, aber herzlich: «Du schreibst immer «dei» statt «die»... Du musst Punkte setzen… Die «S» sind immer grossgeschrieben, hier, hier und hier – siehst du… Das ist deine Konzentration! Das wird nicht der letzte Buchstabe sein, den du üben musst… Du kannst schön schreiben, wenn du willst.»

S. und ich kommen ins Gespräch. Er meint, er korrigiere eigentlich sehr wenig: «Die Freude am Schreiben muss bleiben, das ist das primäre Ziel.» Ich staune ungläubig, denn die soeben beobachtete Szenerie liess etwas anderes vermuten. S. mein dazu: «Hier ist die Ausgangslage eine andere. Ich habe diese Erstklässlerin (ich staune gleich nochmals) gefragt, ob sie alles richtig haben möchte. Und das möchte sie.» 

 

S. zeigt mir zwei Textdokumente von einem anderen Kind – beide mit dem Computer geschrieben. Das erste Dokument ist die Originalfassung des Kindes. Ich bin überfordert und kann kaum ein Wort, geschweige einen Satz auf die Schnelle entziffern. Das zweite Dokument ist die überarbeitete Version von S. Er konnte die Originalfassung lesen und entziffern – und er ist begeistert: «Siehst du diese Formulierung, genial oder? … Ein sehr fantasiereicher Text… Lustigerweise schreibt er «auf» immer mit einem ä, also «äuf», speziell, oder?…»

S. Würdigung dieser Textarbeit ist für mich das Highlight dieses Tages. Er lenkt seinen Blick auf das Gelingende und zeigt Begeisterung für die Arbeit des Kindes. Mit seiner überarbeiteten Version – deren Korrektur er dem Kind natürlich nicht mit erhobenem Zeigefinger um die Ohren gehauen hat – verhilft er diesem Text zur Öffentlichkeit. Nun können andere Kinder und Erwachsene diese Geschichte auch lesen und in den Genuss dieser genialen Formulierungen und der Fantasie dieses Jungen kommen. So entgegnet S. einer Herausforderung, die typisch für die Unterstufe ist: Zwischen den Fertigkeiten beim Lesen und Schreiben und dem inhaltlichen Leistungsvermögen der Lernenden ist oft noch eine grosse Diskrepanz. S. möchte auf die inhaltliche Leistung nicht verzichten, denn genau hier versteckt sich wohl der motivationale Aspekt. 

 

Zurück im Sitzkreis 

Der Vormittag in der Basisstufe endet dort, wo er begonnen hat: im Sitzkreis. Nach und nach trudeln die Kinder ein. Es herrscht eine ruhige Stimmung: Zwei Mädchen üben noch still für sich einen Präsentationstext, zwei Kinder sind in ein «Wo ist Walter?»-Buch vertieft, vier Jungs debattieren über ein Legomodell, während sich der Rest bei der Bücherkiste bedient hat. K. gibt dem Jungen mit dem Legomodell noch die Gelegenheit seine Arbeit zu präsentieren. Es folgt der gemeinsame Schmetterlingstanz und das Osterhasenritual, bevor die Kinder nach Hause entlassen werden. 

 

Was hat mich noch beeindruckt an der GrundacherSchule:

  • Natürlich das Gebäude und der Aussenraum: Eine wunderbare Architektur – gemacht für das Lernen. Grundsätzlich wird eher auf kleine Räume/ Nischen gesetzt (ein Gegentrend zu den immer grosszügigeren Lernlandschaften, z.B. à la Wutöschingen). 
  • Die Anstellungsbedingungen: Pensen mindestens 80%. 150% Stellenprozent pro Klasse. Klare Anwesenheitszeiten, auch während den Ferien (den Mitarbeitenden stehen noch 7 Wochen unterrichtsfreie Zeit zur Verfügung). Dafür: keine Arbeit nach Feierabend und an den Wochenenden. Die hohe Präsenzzeit ermöglicht zwei Nachmittage für die Teamarbeit pro Woche (feste Gefässe). Auch die Ferienarbeitszeit kann im Team genutzt werden. Erst diese Ausgangslage ermöglicht wohl den Betrieb und den Unterhalt dieser qualitativen Lern- und Spielumgebungen und die Planung und Umsetzung der aufwändigen Gesamtschulprojekte. 
  • Der Teamspirit: Ich habe während des ganzen Tages gespürt, dass die Lernbegleiter*innen sehr stark miteinander im Austausch stehen (gerade auch bei den Beobachtungen und Einschätzungen der Lernenden). Dieser Austauscht schafft die Grundlage für eine gemeinsame Haltung und ein gemeinsames Lernverständnis. 
  • Übersicht: Die Lernbegleiter*innen führen täglich Buch, an was die Kinder gearbeitet haben. In der Basisstufe ist diese «Buchführung» ganz einfach aufgebaut: Ein Übersichtsblatt für jedes Kind mit folgenden Spalten: Datum, Sprache, Mathe, Anderes (z.B. Spielangebot). 
  • Intensive Elternarbeit: Während des Jahres finden 3 Standortgespräche statt. Im Könnerheft der Basisstufe habe ich passend dazu ein Formular mit folgenden Punkten entdeckt: Das habe ich in letzter Zeit gelernt. Das mache ich gerne und kann ich schon gut. Das mache/ habe ich nicht so gerne, kann ich noch nicht so gut. Das möchte ich in nächster Zeit machen, spielen, lernen. 
  • Projekte: Jedes Jahr findet ein dreiwöchiges Gesamtschulprojekt statt (Basisstufe bis Oberstufe). Dieses Jahr nimmt die GrundacherSchule eine eigene Gärtnerei in Betrieb: Dabei wird Folgendes initiiert: Gartenkurse, Laden mit kleinem Restaurant, Kundenaufträge vor Ort, alte Gartenmöbel restaurieren, usw.  
  • Workshops Fremdsprachen: Die Lernbegleiter*innen der Mittel- und Oberstufe bieten handlungsorientierte Workshops an (jeweils ein Workshopangebot für mehrere Wochen). Auch fachfremde Lernbegleiter*innen beteiligen sich an diesen Workshopangeboten. 
  • Die Freitagsbühne: Am Freitag kommt die ganze GrundacherSchule zusammen (während ca. 45 Minuten). Die Freitagsbühne wird von 2 Oberstufenschülerinnen vorbereitet und moderiert. Alle Kinder haben die Gelegenheit auf der Freitagsbühne etwas zu präsentieren. 

 

Das nehme ich mit nach Zeihen:

  • Die Weiterentwicklung unserer Lernarrangements: Mit unserem Mathekonzept und dem Lesetraining haben wir einen ersten wichtigen Meilenstein, hin zu einer vorbereiteten Lern- und Spielumgebung, umgesetzt. Dieses Angebot gilt es für unsere Schüler*innen noch «verfügbarer» zu machen. Die Struktur zwischen Lern- und Spielmaterialien/ -aufgaben und den Dokumentations-/ Einschätzungsinstrumenten können wir sicherlich noch klarer herausarbeiten. Eine vorbereitete Lern- und Spielumgebung bleibt für mich das grosse Fernziel. 
  • Projekte: Ein jährliches Gesamtschulprojekt finde ich für unsere Schule sehr erstrebenswert (gerade auch im Kontext der Draussenschule). Der Impact auf das schulische Umfeld (Eltern, usw.) und die Gemeinde scheint mir sehr gross. Eine nachhaltige Öffentlichkeitarbeit mit einem Lernverständnis, das zu uns passt. 
  • Elternarbeit: Macht ein «Weissblatt-Gespräch» (à la G.B.) bei den dreistufigen Abteilungen in Zukunft Sinn (ein zusätzliches Elterngespräch zu Schuljahresbeginn mit den neuen Schüler*innen, ca. 1/3 der Klasse). 
  • Fremdsprachen-Workshops: Wäre dies womöglich ein Ansatzpunkt für unseren neuen Fremdsparchenunterricht?
  • Können dokumentieren: Die verschiedenen Elemente des Könnerhefts (Basisstufe) der GrundacherSchule fand ich sehr stimmig. Können wir uns davon inspirieren lassen?